175 Jahre Synagoge Weilburg

Gedenkmoment am 9. Mai 2020, 18:00 Uhr

Rede von Joachim Warlies zum Gedenkmoment Synagogenjubiläum in der Bogengasse

Wir erinnern heute, für einen Moment, an einen besonderen Tag: Heute, genau vor 175 Jahren, wurde in diesem Hause, Bogengasse Nr. 2, eine Synagoge eingeweiht. Am 9. Mai 1845, um 18 Uhr, begannen hier die Einweihungsfeierlichkeiten für die Synagoge.

 

Uns trennen heute 175 Jahre von diesem Tag, 175 Jahre sind eine sehr große Distanz. Im Jahr 1845 gab es noch keine Eisenbahn an der Lahn. Es gab auch noch kein Deutsches Reich, sondern nur einen Deutschen Bund. Diesem Deutschen Bund gehörte auch das Herzogtum Nassau an, das Herzogtum Nassau mit Herzog Adolph an der Spitze. Zu diesem Herzogtum gehörte Weilburg. Und hier in Weilburg gab es eine kleine jüdische Gemeinde, die wohl in den dreißiger Jahren gegründet worden war. Die Gottesdienste oder gottesdienstähnlichen Veranstaltungen wurden zunächst in einer geräumigen Privatwohnung in der Schwanengasse abgehalten, die sich aber sehr schnell als zu klein erwies. Der Wunsch nach einer eigenen Synagoge wurde deswegen schon früh laut. Aber es sollten noch mehr als 10 Jahre vergehen, bis dieser Wunsch realisiert werden konnte.

 

1843 erwarb die jüdische Gemeinde Weilburg von dem Bierbrauer Rosenkranz den Gebäudeteil Nr. 2, der durch Umbaumaßnahmen im Innern vom Gebäudeteil Nr. 4 abgetrennt wurde. Nr. 2/4 war ursprünglich ein Gebäude und war 1783 – 1785 als Husarenkaserne errichtet worden. Die Umbauarbeiten konnten überraschend schnell abgeschlossen werden, und so kam es bereits am 9. Mai 1845 zur Einweihung der Synagoge. Im Innern waren folgende Änderungen vorgenommen: Der ehemalige Speisesaal wurde zur Synagoge, die Galerie der Musiker wurde zur Frauenempore. Außerdem erhielt die Synagoge eine Orgel. Außerdem wurden eine Lehrerwohnung und ein Lehrzimmer eingerichtet. Der Ankauf des Hauses und die Umbauarbeiten wurden allein von der jüdischen Gemeinde Weilburg finanziert, die hierfür ein Darlehen von 4000 Gulden aufnehmen musste.

 

1845 zählte die jüdische Gemeinde 93 Mitglieder: 54 wohnten in Weilburg sowie 39 in den so genannten „Filialorten“ Löhnberg, Merenberg und Waldhausen. In Löhnberg 17, in Merenberg 18 und in Waldhausen 4.

 

In den folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl der Juden stetig zu - die Gründe hierfür sind unbekannt – und erreichte mit 220 ihren Höchststand im Jahre 1885. Danach schrumpfte die Zahl der Gemeindemitglieder genauso stetig und lag vor dem Ersten Weltkrieg bei knapp über 100.

 

Die jüdische Gemeinde hatte mit der Synagoge ein Gemeindezentrum erhalten, das in den kommenden Jahrzehnten für Gottesdienste, für den Religionsunterricht der Kinder sowie für andere Zwecke der Gemeinde genutzt wurde. Neben der evangelischen und der katholischen Kirche gab es nun als drittes Gotteshaus die Synagoge hier in der Bogengasse. Die Synagoge gehörte fortan zum Weilburger Alltag. Und in der Zeitung erschienen unter „Kirchliche Nachrichten“ nun auch Ankündigungen über Gottesdienste in der Synagoge Weilburg. Allwöchentlich fanden 4 Gottesdienste in der Synagoge statt: einer am Freitagabend und drei am Samstag.

 

Zur Synagoge gehörten immer auch Menschen, die das Haus mit Leben erfüllten. Und so wollen wir heute nicht nur an die Geschichte dieses Hauses erinnern, sondern auch an die jüdischen Menschen, die hier in Weilburg lebten, an jüdische Weilburger.

 

Ich erinnere, stellvertretend für alle anderen, an drei Männer:

  • Der erste Weilburger Stadtverordnetenvorsteher nach dem Ersten Weltkrieg hieß Nathan Reifenberg. Er war nicht nur jüdischer Konfession, er war sogar der Kultusvorsteher der jüdischen Gemeinde Weilburg.
  • Der Kaufmann Theodor Kirchberger, langjähriger Präsident der IHK Limburg, war Ehrenmitglied der Weilburger Bürgergarde und hielt alljährlich Ansprachen bei der Weilburger Kirmes.
  • Der Kaufmann Berthold Jessel gehörte 1905 zu den Mitbegründern des Weilburger Rudervereins, dem er über Jahrzehnte verbunden blieb. In den zwanziger Jahren war er Vorsitzender des Rudervereins, und Anfang der dreißiger Jahre wurde er zum Vorsitzenden des Kur- und Verkehrsvereins Weilburg gewählt.

Jüdische Mitglieder fanden sich in fast allen Weilburger Vereinen: im Turnverein, im Fußballverein, im Ruderverein, in der Bürgergarde, im Liederkranz, sogar im Kriegerverein „Germania“. Nichts unterstreicht deutlicher, wie stark die Juden in Weilburg integriert waren. Sie standen nicht am Rande der Gesellschaft, sondern mitten in ihr, sie waren Teil dieser Gesellschaft. Hier waren die meisten von ihnen geboren, hier haben sie gelebt und gearbeitet, Weilburg war ihr Lebensmittelpunkt, ihre Heimat. Sie waren Teil des Weilburger Alltags. Die einen angesehen, die anderen weniger angesehen. Einige wohlhabend, die meisten weniger wohlhabend, aber alle genauso deutsch wie die anderen Weilburger auch.

Das war die Normalität der zwanziger Jahre. Nichts, aber auch gar nichts deutete damals auf die spätere Katastrophe der so genannten „Endlösung“ hin.

 

Dann kam das Jahr 1933, es war der Wendepunkt wie überall in Deutschland. Für die jüdischen Weilburger begann nun ein neuer Alltag. Ich rede nicht von der antijüdischen Politik des Deutschen Reichs, ich rede von den Veränderungen, die sich hier in Weilburg ab 1933 sichtbar vollzogen:

  • Am 1. April 1933 fand die Boykottaktion gegen so genannte „jüdische Geschäfte“ statt.
  • Als das WT amtliches Mitteilungsblatt geworden war, erschienen keine Mitteilungen mehr über Gottesdienste in der Synagoge;
  • Im September veröffentlichte das WT folgende Anzeige: Inserate jüdischer Firmen werden von uns nicht aufgenommen. Wir bitten unsere Leser, die bei uns inserierenden deutschen Geschäfte beim Einkauf zu berücksichtigen.
  • Und ein Geschäft warb zu Weihnachten 1933 mit dem Slogan: Kauft deutsche Ware.
  • In der zweiten Hälfte des Jahres 1933 begann die Druckerei des Tageblatts, Schilder zu drucken, die die Aufschrift trugen: Hier sind Juden nicht erwünscht.
  • Das damals bekannteste Weilburger Hotel machte sich diese Aufforderung zu eigen und erteilte den Geschwistern Jessel, die Stammgäste gewesen waren, schon 1933 Lokalverbot.
  • Weitere Geschäfte und Lokale folgten diesem Beispiel. Aber dies war nur der Anfang.
  • In der Folgezeit schlossen die Vereine ihre jüdischen Mitglieder aus oder legten ihnen den Vereinsaustritt nahe bzw. ließen sie nicht mehr am Vereinslebeben teilnehmen.
  • 1935 wurde den Juden verboten, ihre Häuser anlässlich der Weilburger Kirmes zu beflaggen. Ab 1937 durften sie den Weilburger Schlossgarten nicht mehr betreten.
  • Im Weilburger Tageblatt, das bereits 1932 zum „Kampfblatt“ der NSDAP geworden war, herrschte seit 1933 ein betont aggressiv-antisemitischer Berichtsstil vor. 
  • Immer wieder wurde in Artikeln lautstark zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgefordert, und die so genannten „Judenfreunde“ unter den Weilburgern wurden heftig angegriffen. In den Artikeln waren die Weilburger Juden direkte Zielscheibe der antisemitischen Propaganda. Die Juden wurden beschimpft als „plattfußbehaftete Nichtarier“, als „plattnasiges Semitenvolk“ und als „Libanontiroler“.

 

All dies zusammen hatte gravierende Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Weilburger Bevölkerung: Die Juden wurden aus der Gesellschaft verdrängt, sie verschwanden nach und nach aus dem Stadtbild, so hat vor Jahren einmal eine alte Weilburgerin die damalige Situation beschrieben.

Zwar führten nicht alle Geschäfte und Lokale das Schild „Hier sind Juden nicht erwünscht“, und immer noch gab es Kunden, vor allem aus den umliegenden Dörfern, die noch lange in jüdischen Geschäften kauften – aber insgesamt wurde der Alltag für die Weilburger Juden ab 1933 zunehmend bedrückender. Vor allem gekennzeichnet durch eine fortschreitende Isolierung und Vereinsamung, hinzu kamen erhebliche wirtschaftliche Probleme.

Dann als schrecklicher Höhepunkt die Gewalttaten am 10. November 1938. Offene Gewalt gegen Weilburger Juden in der Limburger Straße, in der Bahnhofstraße und in der Niedergasse.

 

Nein, dieses Weilburg war den Juden keine Heimat mehr. Und so begann schon 1933 die Abwanderung, die ersten wanderten schon 1933 aus, andere zogen in andere Städte und Gemeinden um. Jahr für Jahr schrumpfte so die Zahl der in Weilburg lebenden Juden. 1935 lebten noch 45 Juden hier, 1938 nur noch 18 Juden.

Von einem Gemeindeleben konnte schon bald keine Rede mehr sein. So wurde das Synagogengebäude im September 1938 an einen Weilburger Kaufmann verkauft, Ende Oktober 1938 löste sich die jüdische Gemeinde Weilburg auf. Auch danach lebten noch einige Juden hier. Diese 14 Personen verließen im März 1940 Weilburg und zogen nach Frankfurt. Dies war der Schlusspunkt, ab jetzt gab es keine Juden mehr in Weilburg. Die Hoffnungen dieser 14 Personen, von Ffm. aus noch auswandern zu können, erfüllten sich nicht. Auch sie wurden Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung, ebenso wie alle anderen, denen die Auswanderung ebenfalls nicht gelungen war.

Insgesamt müssen wir 44 Weilburger Opfer beklagen.

 

Nach Weilburg sind ausgewanderte Juden nicht mehr zurückgekehrt, einen Neuanfang hat es nach 1945 nicht mehr gegeben. Jüdisches Leben in Weilburg gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. Auch die Erinnerung daran ist bereits stark verblasst. Es leben heute wahrscheinlich nur noch ganz wenige Personen, die Weilburger Juden gekannt haben und sich ihrer erinnern. Sie sind die letzten noch lebenden Zeitzeugen. Von den ausgewanderten Weilburger Juden lebt niemand mehr. Jüdisches Leben ist so bereits Teil der Weilburger Geschichte geworden.

 

Wir, die Nachgeborenen, haben die Aufgabe, die Erinnerung an dieses Leben zu bewahren und weiterzugeben. Der heutige Tag ist eine Gelegenheit dazu.

Joachim Warlies und Ido Michel vor der Synagoge in der Bogengasse – Foto:  © Margit Bach
Joachim Warlies und Ido Michel vor der Synagoge in der Bogengasse – Foto: © Margit Bach

Nachtrag:

Die Einweihung der Synagoge am 9. Mai 1845 war ein historischer Moment in der Geschichte der noch jungen jüdischen Gemeinde Weilburg. Aus diesem Grund wurden die Namen aller Juden aufgeschrieben, die damals der Gemeinde Weilburg angehörten. Diese Liste wird im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden verwahrt. Daraus können die Namen aller Juden entnommen werden, der Erwachsenen ebenso wie der Kinder.

 

Ich berichtete vorhin, dass 1845 im Filialort Waldhausen 4 Juden ansässig waren. Es handelte sich dabei um eine vierköpfige Familie, und zwar um die Eltern Nathan Michel und seine Ehefrau Vogel geb. Katz und die Kinder Michael und Hanna, die beide in Waldhausen geboren wurden. Heute weilt unter uns Herr Ido Michel, der in Maintal wohnt. Ido Michel ist nachweislich ein direkter Nachfahre dieses Nathan Michel aus Waldhausen. Nathan Michel ist der Urururgroßvater von Ido Michel. Wir freuen uns, dass Ido Michel unserer Einladung gefolgt ist. Er wird gleich ein Blumengebinde am ehemaligen Synagogengebäude niederlegen.

 

Die Familie Michel ist eng mit Weilburg und dieser Synagoge verbunden: Nathans Sohn Michael zog in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Weilburg, er ist auf dem jüdischen Friedhof Weilburg beerdigt. Michaels fünf Kinder sind sämtlich in Weilburg geboren, darunter als jüngstes Kind Leopold im Jahre 1875. Leopold Michel betrieb am Marktplatz, im Haus Nr. 12, in den zwanziger Jahren bis etwa zur Mitte der dreißiger Jahre ein Geschäft für Felle, Därme und Lederwaren. Von 1926 bis 1931 war er Kultusvorsteher der jüdischen Gemeinde Weilburg, 1938 emigrierte er schweren Herzens nach Palästina und folgte seinem Sohn Manfred nach, der bereits 1936 nach Palästina ausgewandert war. In Leopolds Gepäck befand sich die Thora der Weilburger Synagoge, die seitdem in einer israelischen Synagoge verwahrt wird.

 

Wir wissen nicht, ob Nathan Michel am 9. Mai 1845 bei der Einweihung der Synagoge zugegen war. Wir können aber sicher sein, dass er und seine Familie regelmäßig die Synagoge hier in der Bogengasse besucht haben.

 

Wenn also heute sein Urururenkel ein Blumengebinde an diesem Gebäude niederlegt, dann ist dies eine Handlung von hohem Symbolgehalt: ein Brückenschlag zwischen 1845 und 2020.

Joachim Warlies, pensionierter Schulleiter und ehemaliger Vorsitzender des Geschichtsvereins, hat sich über Jahrzehnte in intensiver Forschungsarbeit der Geschichte der jüdischen Weilburger gewidmet – der Geschichtsverein dankt ihm für dieses Redemanuskript sowie Margit Bach für die Fotos und Hans-Peter Schick für die Organisation des Termins. Herzlich danken wir besonders Ido Michel für seinen Beitrag zur Feierstunde in der Heimatstadt seiner Vorfahren.

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